29.03.2016

Wanderblick mit Hindernissen

Wie sich der Windenergie-Ausbau in unseren Mittelgebirgen auf die Zukunft zertifizierter Wanderwege auswirken könnte


   Von Michael Hahl M.A., Geograph


Unsere Landschaften verändern sich. Windenenergieriegel begrenzen den Horizont, ziehen den Fernblick in drehende Rotoren, durchdringen das Einssein mit der Natur und brechen das Schweigen der Wälder. Technische Großbauwerke halten Einzug in die beschauliche Bergwelt der Mittelgebirge. Die Branche der Wanderwege-Zertifizierer muss schwierige Entscheidungen treffen: Erhalten (und behalten) Wegerouten auch dann noch ein Zertifikat, wenn in manchen der einst schönsten ländlichen Regionen künftig reihenweise Windenergieanlagen an Höhenwegen verlaufen? Wie bewerten Umfragen und Studien die Landschaftsästhetik, die tourismuswirtschaftlichen Rückkopplungen und das Wandererlebnis im Kontext eines politisch gewünschten Windenergie-Ausbaus? - Essay rund ums Wandern in Zeiten eines landschaftsverbrauchenden Energiewirtschaftswunders ...


Eigentlich war mein Wanderblog abgeschlossen - nun holt mich der Wandertourismus offenbar auf dem Weg der Beschäftigung mit dem Landschaftsschutz wieder ein. "Energielandschaften" lautet das umstrittene Reizwort, hier vor allem heiß diskutiert: "Windenergie". Im Zuge allzu kritikloser "Gläubigkeit" an den Windkraft-Ausbau als vermeintliche Klimaschutzmaßnahme gräbt sich derzeit eine Vorrangfläche für großtechnische Anlagen nach der anderen in unsere Kulturlandschaften. Auch die Mittelgebirge und ihre teils weiträumigen Wälder, die Naturparke und Landschaftsschutzgebiete, die europäischen Vogelschutz- und FFH-Gebiete bleiben nicht mehr verschont. Dies scheint nicht so recht nachvollziehbar aus der Sicht des Landschafts- und Naturschutzes, der Artenschutz wird im Namen eines allzu vage herleitbaren Klimaschutzes durchhöhlt wie Schweizer Käse und der Raubbau kehrt auf eine Weise zurück, wie man es Jahrzehnte lang, als es noch eine nachvollziehbare Raumordnung gab, nicht für möglich gehalten hätte. Gut, alles Ansichtssache, werden manche sagen, da helfen auch die fachlich-logischsten Argumente nicht, zumal Klimaschutz oder das, was viele dafür halten, heuer jeglichen Landschafts- und Naturverbrauch rechtfertigt. – Aber schauen wir einmal, wie es Sinn und Zweck dieses kurzzeitig reaktivierten Wanderblogs entspricht, auf den Wandertourismus mit Fokus auf die Zertifizierung von Wanderwegen.


Ursprünglich, so vor gut zwanzig Jahren, begann die Erfolgsstory, perfekte Wanderwege zu planen und mittels Zertifikaten aufzuwerten, nicht einfach willkürlich mit einer fixen Idee, sondern auf dem Boden empirischer Untersuchungen: Wandergäste wurden befragt, was sie von einem sehr guten Wanderweg erwarten, was ihnen besonders gefällt, was sie stört usw. Auf dieser Grundlage - bereichert durch Kenntnisse der vor allem angloamerikanischen Landschaftspsychologie, die grob gesagt aufzeigen konnte, dass die Wahrnehmung "schöner Landschaften" nicht nur individuelle Geschmackssache, sondern objektivierbar ist - konnte man Qualitätskriterien entwickeln und optimale Wanderstrecken planen sowie vermarkten. Ein neues Feld war gefunden, die Wandergäste freuten sich und die Destinationen mit ihren perfekt inszenierten Wanderwegen nicht minder.


Heute steht durch den politisch gewollten Windenergie-Ausbau eine Überformung unserer Kulturlandschaften, gerade auch in den Mittelgebirgen, ungeheuren Ausmaßes bevor. Teils hat diese Windkraft-Industrialisierung ländlicher Regionen bereits stattgefunden, teils werden nun erst noch die Vorrangflächen in den Regionalplänen ausgewiesen, denen der weitere Ausbau nach und nach folgen wird. Da stellt sich schon die Frage, wie man denn heuer mit der Wanderwege-Zertifizierung umzugehen gedenkt. Hierzu muss man auf der rein fachlichen Ebene überlegen, was eigentlich zuerst da war: die Zertifizierung oder die empirisch ermittelten Qualitätskriterien. Die Frage ist rhetorisch. Denn es sollte ja zweifelsfrei um die Wünsche, Präferenzen und Motive der Wandergäste gehen. So wundert es nicht, dass zertifizierte Wanderwege in den Mittelgebirgen bislang den Zweck erfüllten, dass sie u.a. naturnahe Landschaften, Stille, möglichst wenige technische Bauwerke, Fernblicke mit weiten "Horizonten" usw. aufbieten konnten und damit den durch Befragungen ermittelten Wandererwünschen optimal entsprachen. So konnten diverse "Wanderhimmel" in ländlichen Räumen entstehen und begehbare Naturabenteuer gebucht werden: "Premiumwege", "Qualitätswege", erst Mehrtagestouren, dann zunehmend auch zertifizierte Tagesstrecken. Der Wandermarkt boomte in Deutschlands Mittelgebirgen und die Sache war ganz klar: Wer in seinem Kurzurlaub oder übers Wochenende seine Wünsche nach fußläufiger Lebensfreude einer gezielt ausgewählten Destination anvertraute, der durfte in den per Zertifikat ausgewiesenen Wanderdestinationen weitgehend sicher sein, dass er dann auch Landschaft und Natur pur mit herrlichen Fernblicken oder stiller Waldeinsamkeit erleben würde.


Und nun: Unsere Landschaften verändern sich. Technische Großbauwerke halten Einzug in die beschaulichen Berge. Die Branche der Wanderwege-Zertifizierung muss schwierige Entscheidungen treffen: Erhalten (und behalten) Wegerouten auch dann noch ein Zertifikat, wenn in manchen der ursprünglich einmal schönsten Mittelgebirgsregionen künftig reihenweise Windenergieanlagen am Weg entlang verlaufen? Sollten die Berücksichtigung von – gegebenenfalls bislang noch nicht bebauten - Vorranggebieten sowie Visualisierungen und Sichtachsenanalyen Einzug in die Wanderplanung halten? Werden kommunal und regional erwünschte Routen auch dann als Qualitäts- oder Premiumwege zertifiziert, wenn die Strecken jetzt schon respektive erst in ein, zwei oder fünf Jahren ihre Fernblicke überwiegend auf 200 Meter hohe Maschinen mit zeitweise rasend drehenden Rotoren richten? Nach Werner Nohl (2009) wirken sich ja nicht nur das technisch überformte Landschaftsbild, sondern auch eine unvermeidliche „Zwangswahrnehmung durch Rotorbewegungen“ störend auf das landschaftsästhetische Erlebnis aus. Oder geht man nun mit den "grünen Maschinen" so um, wie man es auf Grundlage der empirischen Befunde bislang mit allen industriellen Anlagen tat und verteilt kräftigen Punktabzug bis hin zur konsequenten Unmöglichkeit, eine Wanderroute an "Windparks" entlang oder mit etlichen Sichtachsen auf solche überhaupt zu zertifizieren?


Aktuell sucht die Qualitätssicherungsbranche hinsichtlich prädikatisierter Wanderwege versus Windenergie noch einen recht moderaten Weg. Nun kann man sagen, was man will, aber 200 Meter hohe Windenergieanlagen auf bewaldeten Bergrücken sind nun einmal technische Großbauwerke und eben doch keine spielzeugähnlichen Öko-Symbole, wie man sie lange genug in vielfach reproduzierten Werbebildchen kommunizierte und visualisierte. Noch heute schwanken die Begrifflichkeiten zwischen "Windpark" und "Windenergie-Industrie", was letztlich die Kluft zwischen Schein und Sein vor Augen führt. Wenn man nun derzeit (noch?) im Kontext von Wanderwege-Zertifizierungen ein relativ hohes Maß an Toleranz aufbringen möchte, obwohl diese Großbauwerke von der empirischen Forschungslage her als negative Beeinträchtigung des Landschaftserlebnisses gewertet werden müssten, dann wäre das zwar sicherlich dem derzeitigen politischen Willen gezollt sowie einer momentan noch teilweise wirksamen Konvention der Beschönigung, die aber bereits am Bröckeln ist. Jedoch: Die Grundlage der ausgeklügelten Qualitätskriterien für zertifizierte Wanderwege ist und bleibt eben eine empirische - keine politisch korrekte.


Gut, Sie werden vielleicht sagen: Die Toleranz und mit ihr die Wahrnehmung verändere sich. Die scheinbare und vielfach kommunizierte „Alternativlosigkeit“ von Windenergieanlagen pause sich in der Akzeptanz der Wandergäste durch. Windenergie werde von vielen positiv bewertet usw.. Sagen wir einmal so: Die Studienlage dazu erscheint etwas widersprüchlich. Während Werner Nohl, Deutschlands Urgestein der planerischen Landschaftsästhetik, den zerstörerischen Effekt von Windkraftanlagen auf das Landschaftsbild objektiv zu greifen versucht oder die Studie "Gone with the wind" der Geographen Tom Brökel und Christoph Alfken durch statistische Analyse zeigt, dass sich Windkraftanlagen negativ auf den Tourismus im nahen Umland bis 20 Kilometern auswirken können, kommt Heinz-Dieter Quack an der Ostfalia-Hochschule zur Erkenntnis, so ist zu lesen, dass sich - im Untersuchungszeitraum 2013 bis 2015 - 45 % der befragten Wanderer, die Windenergieanlagen auf ihrem Weg bemerken, von diesen gestört fühlten. Auch ein Drittel der so genannten "Ökostrom"-Bezieher störten die Windenergieanlagen. Das Störempfinden sei dann am stärksten, wie 98 % der Befragten äußerten, wenn das Landschaftsbild stark durch Windenergieanlagen dominiert sei und wenn die Aussichten hierdurch beeinträchtigt würden.


Das ist eine im besten Falle mittelprächtige Bewertung der Beeinträchtigung des Wandererlebnisses durch Windenergieanlagen am Weg. Die Folgerung liegt meines Erachtens nahe - auch wenn man das teils noch relativ frühe Stadium des erst beginnenden Windkraft-Ausbau in den Mittelgebirgen berücksichtigt -, dass gut 45 % der offenen Blicks und auf Fernsichten wartenden Wanderer künftig doch lieber jene Wanderdestinationen wählen werden, wo sie tatsächlich das bekommen, wofür Qualitäts- und Premiumwege doch einst standen: Schöne Aussichten. Stille. Naturnahe Landschaften. Geringe Technisierung ... Wie hieß es doch einmal am Saar-Hunsrück-Steig: Wanderer, wann war dein letztes Abenteuer? – Realistisch betrachtet spricht vieles dafür, dass das, was beispielsweise in einer Studie des an die Uni Passau angekoppelten Centrums für marktorientierte Tourismusforschung ("CenTouris") bereits Ende 2012 ermittelt wurde, auch im Wandersektor eine für manche bittere Realität werden könnte: Nur 21 % der Befragten, so heißt es darin, begrüßten Windenergieanlagen in Mittelgebirgen. In Urlaubsregionen sei die Akzeptanz besonders gering. Immerhin 26 % der Befragten sahen Windenergieanlagen an Aussichtspunkten und Wanderwegen als Grund, in dieser Region erst gar keinen Urlaub mehr zu machen. - Dass gerade auch die Wanderer kritisch und anspruchsvoll ihre Zielorte wählen, ist lange schon bekannt.


Solche Umfragen und Auswertungen schaffen nicht gerade die beste Prognose für den Wandermarkt in Mittelgebirgen im Kontext der Windkraft-Industrialisierung. Sie legen den Schluss doch recht nahe, dass denjenigen Kommunen und Regionen, die auf Wandergäste und zertifizierte Wanderwege setzen, aber gleichzeitig den Windenergie-Ausbau in ihren Landschaften allzu unkritisch ermöglichen oder gar aktiv vorantreiben, künftig nicht der wandertouristische Erfolg beschieden sein kann, der gewünscht war und für den nicht gerade wenig investiert wurde. Ich gehe auf Basis der angerissenen Kenntnisse davon aus, dass es in den kommenden Jahren in den Mittelgebirgen klare Gewinner und Verlierer geben wird: Regionen und Kommunen, denen der Wandertourismus aufgrund der windenergieindustriellen Überformung ihrer einstigen "Wanderparadiese" weg brechen wird, und solche, welche ihr ästhetisches Landschaftsbild bewahren können, die dadurch sogar umso mehr Wandergäste bekommen, weil hier eben noch genau das zu finden sein wird, wonach jene - wie die Landschaftspsychologie längst wusste - sich in ihrem „Wanderherzen“ sehnen.


Dass die derzeit wahrlich nicht zu beneidende, aber auch in ihrem kritischen Denken und Handeln herausgeforderte Zertifizierungsbranche solche Prognosen umgehen kann, wage ich zu bezweifeln. Die abzusehende Entwicklung hat etwas von Fünf-Sterne-Restaurants, unter denen einige das aufgewärmte Hauptgericht von vorgestern präsentieren werden und der Ansicht sind, dass es den Gästen auch übermorgen noch schmeckt. Die gute Nachricht: Der Markt wird es regeln.

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